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MÄNNER
09.02.2021

Ein Spiel dauert 3.600.000 Daten

Am 26. Dezember 1952 sorgte eine Kamera für ein mittleres Wunder: Erstmals wurde ein Fußballspiel live in Deutschland übertragen, die Bilder der DFB-Pokal-Partie FC St. Pauli gegen die Sportfreunde Hamborn 07 sorgten für Faszination vor den oftmals mehr tief als breiten TV-Geräten. 68 Jahre später sind die technischen Möglichkeiten schier unbegrenzt. Allein 16 bis 20 Kameras setzt die Deutsche Fußball Liga (DFL) in den Stadien mittlerweile pro Spiel ein – nicht etwa zur Übertragung der Partie, sondern zusätzlich: zur Verfolgung von Ball und Spielern. Die so gewonnenen Daten bieten den Fans informative Mehrwerte wie die live ermittelte Top-Geschwindigkeit, die Torwahrscheinlichkeit oder die realtaktische Formation. SPIELFELD erklärt, was hinter den Live-Daten steckt, wie sie gewonnen werden und was sie wirklich aussagen.

Bei der TSG Hoffenheim steht das Thema Datenanalyse bereits seit vielen Jahren im Fokus. Dank des Softwarekonzerns SAP, Hauptsponsor und Technologiepartner des Vereins, nimmt die TSG in diesem Bereich eine führende Stellung im internationalen Fußball ein.

Aber nicht nur bei der TSG, sondern im Fußball insgesamt, nimmt die Bedeutung von Daten zu. Vor einigen Jahren vollzog sich im deutschen Fußball eine zunächst kaum beachtete Revolution. Das lag in erster Linie daran, dass die Neuerungen nicht auf dem Feld zu sehen waren. Es ging nicht um taktische Innovationen wie die Dreierkette oder auffällige Änderungen wie die Aufnahme der Rückpass-Regel. Der Beginn der neuen Zeitrechnung begann außerhalb des Rasens, auf den Dächern der Arenen. Seitdem wurden die Technik und die Prozesse ständig verbessert, um jede Bewegung auf den Plätzen systematisch zu erfassen. Zur Saison 2017/18 übernahm die neu gegründete Firma Sportec Solutions, eine Tochtergesellschaft der DFL, den Auftrag zur Erhebung, Speicherung, Qualitätssicherung und Auslieferung der Offiziellen Spieldaten der DFL. Ab der Saison 2019/20 wurde die Zahl der Kameras zur Positionsdatenerfassung in allen Bundesliga-Stadien sogar noch einmal auf maximal 20 erhöht.

Seitdem können sich Ball und Spieler den digitalen Augen nicht mehr entziehen. Am Ende jedes einzelnen Spiels stehen nun rund 3,6 Millionen Datenpunkte zur Verfügung, die zu interessanten und unterhaltsamen Fakten zusammengerechnet werden und nicht nur für Fans und Medien interessant sind: Auch die Daten-Analysten der Klubs nutzen die Erkenntnisse für ihre Live-Analyse. Dr. Hendrik Weber, Vorstand von Sportec Solutions, betont: „Spieldaten sind kein Zaubertrank, aber ein Hilfsmittel, das nicht mehr zu vernachlässigen ist.“ Das Hilfsmittel erhielt im Januar 2020 eine weitere Entwicklungsstufe: Als erste Liga weltweit besiegelte die Bundesliga eine Zusammenarbeit mit Amazon Web Services (AWS), die dank neuer Hilfsmittel wie machine learning und Künstlicher Intelligenz (KI) weitere Innovationen wie den Speedalarm, die Torwahrscheinlichkeit (xGoals) oder die taktischen Realformationen ermöglichte. 

Speedalarm

Seit dem 5. Spieltag dieser Saison versorgt die Bundesliga ihre Fans mit einem neuen Live-Service: Bei den Übertragungen der Spiele wird der Speed-Alarm ausgelöst, sobald eine gemessene Geschwindigkeit eine persönliche Bestleistung, den besten Wert eines Teams, der Begegnung, der Saison oder sogar der Historie misst. Möglich ist dies, da die Position jedes Spielers und des Balls 25 mal pro Sekunde erfasst wird und somit unter anderem die Geschwindigkeit errechnet werden kann. Mit Unterstützung von Partner AWS können diese Werte in kürzester Zeit mit allen historisch erfassten Daten abgeglichen werden.

Realformation

Diese Technik bietet auch die Ermittlung der bereits im Mai in der Bundesliga implementierten Einblendung der „Realformation“ jedes Teams. Dabei wird die vor dem Anstoß gezeigte taktische Aufstellung mit den durchschnittlichen Positionen der Spieler in Echtzeit verglichen. Somit ist für die Zuschauer leicht erkennbar, wie offensiv oder defensiv eine Mannschaft agiert, auf welcher Seite die Mannschaft defensiv mehr gefordert ist und ob sie eher über das Zentrum oder die Außen angreift.

Torwahrscheinlichkeit/xGoals

Seit dem 28. Spieltag der Vorsaison genießen die TV-Zuschauer den Service der Torerzielungs-Wahrscheinlichkeit, für jeden Torabschluss. Zudem erlaubt die Technik laut DFL, „Aussagen zur Effizienz der einzelnen Spieler und Teams beim Torabschluss zu treffen, indem die aufsummierten Torwahrscheinlichkeiten im xGoals-Wert zusammengefasst werden. Die Torwahrscheinlichkeit wird hierbei nach jedem Torschuss in Echtzeit berechnet, so dass Informationen über den Schwierigkeitsgrad des Schusses und die Wahrscheinlichkeit eines Treffers vorliegen“. Doch damit nicht genug, für die Berechnung werden „zahlreiche Informationen aus dem Tracking der Positionsdaten herangezogen, unter anderem die Distanz und der Winkel zum Tor, die Bewegungsgeschwindigkeit des Schützen, die Zahl der Gegenspieler zwischen Ball und Tor und die Torabdeckung durch den Torwart“. Die Wahrscheinlichkeiten basieren auf historischen Daten von mehr als 47.000 Torschüssen.

Menschliche Unterstützung für die Maschinen

Hinter den aufschlussreichen wie unterhaltsamen Einblendungen, die bei den Live-Übertragungen nur jeweils wenige Sekunden zum Einsatz kommen, stecken modernste technische Geräte und hellwache Mitarbeiter. Zwar werden die gewonnenen Daten von einer Software in Zahlen und Statistiken umgewandelt, doch trotz der beeindruckenden Digitalisierung ist eine exakte Datenermittlung nur mit menschlicher Hilfe möglich: Vier Mitarbeiter pro Partie speisen die Daten in jedem Stadion in die Programme ein und beurteilen jene Situationen, die für die Künstliche Intelligenz (KI) nicht zu entschlüsseln sind: Wer war zuerst am Ball, wer hat den Zweikampf gewonnen?

Um auch diese Szenen live sofort aufzuschlüsseln und die durch das menschliche Auge gewonnenen Daten ebenfalls ins System einzuspeisen, sitzt ein sogenannter „Speaker“ im Stadion, der über eine Code-Sprache mit dem „Writer“ kommuniziert, der die Daten in Echtzeit ins System eingibt. Zwei Operatoren gleichen die eingetragenen Ereignisse mit den Bewegtbild-Signalen ab – die Spiele erhalten im Anschluss sogar ein geprüftes Gütesiegel von Sportec Solutions. Das Unternehmen gab im November bekannt, dass es von nun an seine Expertise verstärkt auch  internationalen Ligen, Verbänden und Medienhäusern anbieten wird, um eine „international führende Rolle einzunehmen“. 

Ein Mehrwert für alle, wie DFL-Geschäftsführer Christian Seifert betont: „Vor allem im Segment Spieldaten werden sich die Möglichkeiten zur Nutzung in der sportlichen und medialen Analyse weiter schnell entwickeln. Die DFL und Sportec Solutions werden als Innovationsführer in diesen Feldern neue Impulse liefern.“

1.600 Spielereignisdaten pro Partie

In der Live-Datensammlung wird zwischen Ereignisdaten und Positionsdaten unterschieden. Zur ersten Kategorie gehören etwa Zweikämpfe, Fouls, Tore oder Pässe zum Mitspieler. Pro Spiel gewinnen die Analysten rund 1.600 Ereignisdaten. Hinzu kommen die dank neuester Techniken ebenfalls ermittelbaren Positionsdaten: Laufleistung, Sprints, Ballbesitz oder Wirkungsfelder einzelner Spieler. Ereignis- und Positionsdaten sind Kernelemente der von der DFL veröffentlichten offiziellen Spieldaten jeder Partie, zu denen auch Stammdaten wie Spielernamen, Spielinformationsdaten wie Anstoßzeiten und Aufstellungen sowie Basisdaten zur Historie des jeweiligen Duells gehören. Die DFL ist stolz darauf, „allen Klubs die Grundlage zu bieten, die eigene Mannschaft, den Gegner und das Spiel besser zu verstehen“. Dr. Hendrik Weber, Vorstand von Sportec Solutions, ist vom Mehrwert der Datenanalyse überzeugt: „Am Ende steigt dadurch das Gesamtniveau.“

TSG nutzt Live-Daten während der Spiele

Die von der DFL erhobenen Daten sind schon während des Spiels für Medien und Klubs abrufbar – und somit eine große Hilfe für die Analysten der Vereine. Sprintet ein Spieler weniger als gewohnt? Läuft ein anderer deutlich mehr und muss früher ausgewechselt werden? Steht die Viererkette zu hoch oder zu tief? Bei all diesen Fragen geben die gewonnenen Live-Daten unmissverständliche Antworten und liefern wichtige Informationen für die Spielanalyse, die Scouting-Abteilungen sowie die Athletiktrainer der Klubs. Timo Gross, Co-Trainer Analyse der TSG Hoffenheim, ist froh über den zusätzlichen Input: „Die DFL bietet uns eine Vielzahl an Datenpunkten, die wir verwenden können und die uns sehr helfen. Zusammen mit den Videozusammenschnitten ist das ein absoluter Mehrwert. Zwar sind längst nicht alle Facetten abgedeckt, aber die Entwicklung ist beachtlich und wird auch durch regelmäßiges Feedback der Klubs fortgeführt. Aktuell sind etwa Hereingaben als Spielereignisse hinzugekommen.“

Dennoch schränkt Gross den Nutzen der Daten auch etwas ein: „Man muss sie mit dem entsprechenden Kontext verbinden, um wirklich gültige Aussagen zu erhalten und der Komplexität des Spiels Fußball näher zu kommen. Die xGoal-Wahrscheinlichkeiten sind ein gutes Beispiel. Es ist der Versuch, zu erwartende Tore zu bemessen und darüber die Spielleistung erklärbarer zu machen. Zur Berechnung wird mit Kriterien wie Distanz und Winkel zum Tor, sowie Geschwindigkeit des Schützen und Druck auf ihn gearbeitet.

Parameter wie die Position des Spielers zum Ball sowie die exakte Position des Torhüters werden noch nicht mit einbezogen und zeigen zugleich das Potenzial für eine noch umfänglichere Erklärung.“ Das Fazit fällt dennoch absolut positiv aus: „Es bedarf noch einer deutlich größeren Detailtiefe und Verknüpfung zum Matchplan, um die Daten wertvoller und gewinnbringender nutzen zu können. Unsere Erfahrungswerte und subjektiven Beobachtungen erhalten eine enorme inhaltliche Unterstützung durch die objektiven Daten. Somit ist die detaillierte und konsequente Datennutzung in unseren Abläufen nicht mehr wegzudenken. Man wird aber auch zukünftig keinen Computer eine Mannschaft coachen lassen können.“ Big Data ist eine bedeutende Hilfe, hat aber ihre Grenzen.

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