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SPIELFELD
20.03.2017

Sehen mit fremden Augen

Sie schildern das, was einige blinde oder stark sehbehinderte Fans nicht sehen können: Die Geschwister Rebekka und David Wilke, die Blindenreporter der TSG. Von der Pressetribüne übertragen sie wie Radioreporter live ihre Eindrücke in Block N der WIRSOL Rhein-Neckar-Arena, wo ihre Zuhörer sitzen.

Enis Orhan weiß genau, von welcher Stelle Kerem Demirbay den Freistoß schießen wird. Der 24-Jährige aus Walldorf verfolgt das Bundesligaspiel der TSG gegen den SV Darmstadt 98 wie 29.000 andere Zuschauer im Stadion, aber es ist ein gravierend anderes Erlebnis. Denn der Psychologie-Student ist stark sehbehindert, seit Geburt.

"Es ist zuletzt noch schlimmer geworden, weil ich auch Grauen Star bekommen habe", sagt Enis, der im Alltag – wie er schildert – "ganz gut zurechtkommt". Zum Darmstadt-Spiel ist er mit der S-Bahn gekommen und hat Ibrahim mitgebracht, den er bei seiner ehrenamtlichen Arbeit in der Flüchtlingshilfe kennengelernt hat. Sie sitzen in Block B, Reihe 13. "Ich bekomme das Spiel gut mit, ich weiß sehr genau, was auf dem Platz passiert", sagt Enis.

Fachjargon: Verortung

Rebekka (34) und David Wilke (32) schildern das Spielgeschehen nämlich so anschaulich, dass alle Blinden und Sehbehinderten bei den TSG-Heimspielen mitfiebern können. Dank den Geschwistern Wilke, den Blindenreportern der TSG, können Enis und andere blinde und sehbehinderte Fans, darunter auch welche aus Darmstadt, die Partie genau nachempfinden – mit den Augen zweier anderer, hilfsbereiter Menschen.

"Demirbay hat den Ball zehn Meter rechts vom Darmstädter Tor, in der Höhe des Strafraumecks hingelegt", ruft Rebekka in ein Mikrofon. Rund 150 Meter entfernt, rechts neben der Südtribüne, nahe an den Hoffe-Stimmungsfans, empfangen die Blinden die Reportage über einen Kopfhörer. Der Freistoß landet auf dem Kopf von Niklas Süle, doch die Darmstädter Abwehr schlägt den Ball in Richtung Mittellinie. Rebekka schildert möglichst exakt, wie sich das Spiel entwickelt. "Wir geben sehr oft die genaue Position des Balles an. Im Fachjargon nennen wir das Verortung, damit unsere Nutzer sich vorstellen, was wo passiert. Wir müssen möglichst nahe am Spiel bleiben", erklärt Rebekka.

Sie ist eine echte Fachfrau, denn sie arbeitet als Journalistin für RTL in Mannheim im Außenstudio für den Südwesten Deutschlands. Schon seit acht Jahren ist sie zudem ehrenamtlich als Blindenreporterin der TSG tätig.

Schweigen? Undenkbar!

"Seit 2009 bin ich dabei. Damals wurde nach dem Aufstieg der TSG das Stadion in Sinsheim fertiggestellt und der Klub suchte erstmals Reporter, damit die Blinden und Sehbehinderten die Spiele verfolgen konnten. Diese Aufgabe hat mich so fasziniert, dass ich es nicht mehr missen möchte, alle 14 Tage bei den Heimspielen in der Arena zu sein“, sagt Rebekka Wilke. Später kam ihr Bruder David dazu, der als Controller bei Bosch arbeitet, und als dritte Kraft Markus Schulze (24), ein Lehramtsstudent, der selbst noch aktiv Fußball spielt und schon fachliche Erfahrungen bei RPR1 und Radio Regenbogen sammelte.

Freude, Jubel, Ärger und Frust – diese Emotionen haben alle Fußballfans, auch Sehbehinderte. Die Zuhörer haben genaue Vorstellungen von einer guten Reportage. Märchenstunden wollen sie nicht. Ausschweifende, allgemeine Informationen lenken vom Spiel ab. "Wenn es im Stadion laut wird, wollen wir wissen warum", sagt Enis.

"Rebekka und ihr Bruder machen das sehr gut." Die Blindenreporter in der Bundesliga – fast alle Vereine bieten diesen Service an – üben einen sehr anspruchsvollen Job aus. Denn sie beschreiben – anders als bei einer Radioübertragung – nicht nur die packenden Spielszenen, sondern den kompletten Spielverlauf. Und 90 Minuten voll konzentriert die Partie zu verfolgen und zu reden, ohne sich zu verhaspeln, ist eine kognitive und physische Topleistung. Schweigt der Reporter, ist der Nutzer tatsächlich blind. Und die Vorbereitung sollte möglichst akribisch sein und nimmt Zeit in Anspruch.

"Schön, dich zu sehen, ha, ha, ha"

Mit Rebekka sind die blinden TSG-Fans sehr zufrieden, die lebhafte Frau schildert sehr anschaulich. Während der Spiele wechselt sie sich bei der Kommentierung mit David oder Markus ab. "Vier Augen sehen mehr als zwei. Foul zu rufen und nicht zu wissen, wer es war, ist schlecht", sagt Rebekka. Eine besonders kompliziert zu beschreibende Szene hat sie gut hinbekommen: Es war das "Phantomtor" im Oktober 2013, als der Leverkusener Stefan Kießling den Ball ans Außennetz köpfelte, der durch ein Loch im Tornetz schließlich doch im Kasten landete. Schiedsrichter Felix Brych erkannte diesen irregulären Treffer an.

Die Reaktionen auf die Reportagen sind sehr gut. Das erfahren Rebekka und ihre beiden Kollegen oft genug in den Gesprächen mit ihrer "Kundschaft", denn vor jedem Spiel gehen sie in den Block N und sprechen mit den blinden Fans. "Das Lob der Blinden ist der schönste Lohn", sagt Rebekka. "Sie sind ganz witzig und wirklich cool. Sie sagen auch mal, schön dich zu sehen, ha, ha, ha." Und vor allem: "Die Blinden verstehen das Spiel. Sie wissen, was ein Übersteiger ist", sagt Rebekka.

Regelmäßige Qualitätskontrolle

Im Block N betreut Gisela Hartmann die Blinden und Sehbehinderten, gibt die Headsets für die Live-Übertragungen aus, erklärt Neulingen, wie alles funktioniert, führt die Fans zu ihren Plätzen oder auch mal zur Toilette. "Gisela ist unsere gute Seele", erklärt Rebekka. Sie selbst ist über die Jahre zu einem echten TSG-Fan geworden, wobei die aus Lüdenscheid stammende Journalistin auch mit Borussia Dortmund sympathisiert. Die TSG unterstütze die Blindenreporter sehr gut, betont Rebekka Wilke.

"Das Arbeitsumfeld ist sehr angenehm. Wir werden nicht im Regen stehen gelassen. Wenn wir etwas brauchen, werden diese Wünsche erfüllt." Sehr interessant sind die regelmäßigen Tagungen, die die Deutsche Fußball-Liga (DFL) für die Blindenreporter aller Bundesliga-Vereine organisiert. Wie bei den Schiedsrichtern gibt es sogar eine "Qualitätskontrolle", bei der ein von der DFL beauftragter Experte im Stadion das Spiel auch live verfolgt, die Blindenreportage mithört und aktuell auswertet. Rebekka Wilke, ihr Bruder David und Markus Schulze erzielen bei den Tests übrigens Spitzenwerte.

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