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18.11.2015

Videoanalyse: Gutes Auge und Stressresistenz

Die Berufsbezeichnung „Video- und Spielanalyse“ hört sich gut an. Dass damit mehr zusammenhängt als nur den ganzen Tag Fußball schauen, und dass es auch unangenehme Momente geben kann – etwa wenn der stetige Begleiter, die Technik, einmal nicht so will wie man selbst – davon kann Timo Gross ein Lied singen. Der 25-Jährige verantwortet diesen Bereich, der im modernen Fußball immer größere Bedeutung erlangt, als Koordinator in der achtzehn99 AKADEMIE.

Als der 1990 in Karlsruhe geborene Gross im Oktober 2013 sein halbjähriges Praktikum in der Akademie, damals unter der Leitung des heutigen Spielanalysten der Profis, Benjamin Glück, leistete, wusste er schnell: „Das will ich hauptberuflich machen.“ Nach der Beförderung Glücks zur U23 übernahm er im Sommer 2014 dessen Stelle.

Den Zugang zur Spielanalyse erhielt Gross während seines Studiums „Sport und Leistung“ an der Sporthochschule Köln. „Ich habe schon immer Fußball geschaut und alles in Bezug auf Statistik, Taktik etc. aufgesogen“, sagt Gross, dessen Großvater einst Mannschaftsarzt beim Karlsruher SC war. Aus einer Arztfamilie stammend, stand auch lange Zeit ein Medizinstudium zur Debatte, letztendlich entschied sich der ehemalige Kicker des SV Hohenwettersbach aber bewusst für den Sport. Im Studium wurde er Mitglied eines Projektteams, das während der EM 2012 Gegneranalysen für den DFB anfertigte, und unterstützte Stephan Nopp, der mittlerweile als promovierter Sportwissenschaftler die A-Nationalmannschaft in der systematischen Spielanalyse und als Mitglied der medizinischen Abteilung betreut, bei dessen Doktorarbeit.

Hochwertige Technik

„Wir haben unter anderem die fünf Aktionen vor der Entstehung eines Tors analysiert und daraus Trends abgeleitet, wie man beispielsweise entsprechende Trainingsformen entwickeln oder Standards effektiver gestalten kann“, berichtet Gross. Bei der EM 2012, als sich die Griechen überraschend in letzter Sekunde als Deutschlands Viertelfinalgegner entpuppten, musste Gross mit seinem Team kurzfristig sonntags anrücken, um anhand der Gruppenspiele einen Bericht für den DFB fertigzustellen. „Dabei haben wir nicht nur fußballerische Analysen angefertigt, sondern auch Medienberichte gescannt und Faktoren wie zum Beispiel die Stimmung im Team untersucht.“ Eine spannende Zeit, die mit dem Halbfinal-K.o. gegen Italien endete.

Gross machte seinen Bachelor in Köln und erweiterte seine Kontakte, die Wahl des Berufswunschs war zu diesem Zeitpunkt längst gefällt. „Ich hatte immer noch die Medizin im Hinterkopf, wollte aber unbedingt die Arbeit in einem Profiverein kennenlernen.“ Er verschickte mehrere Bewerbungen und bekam schnell positive Antwort aus Hoffenheim – und hier hat Gross sein Glück gefunden. In einem ereignisreichen ersten Jahr als Hauptamtlicher war er an der Deutschen Vizemeisterschaft der U19 in der Saison 2014/15 beteiligt.

Den Anteil der Analysten will der Karlsruher dabei nicht zu hoch hängen. „Die Hauptarbeit liegt bei den Spielern und beim Trainerstab, wir können aber noch ein paar Prozentpunkte herauskitzeln“, sagt Gross und weiß: „Die Möglichkeiten in Hoffenheim sind herausragend, weil wir über die entsprechende Technik verfügen. Gerade das verlangt aber ein intensives Arbeiten, um ein volles Ausschöpfen des Potenzials zu erreichen.“

Sequenzen für die Pausenansprache

Das Aufgabengebiet ist sehr vielfältig. Es fängt damit an, von der U19 bis zur U15 dafür Sorge zu tragen, dass Spiele und mitunter auch Trainingseinheiten von Studenten und Honorarmitarbeitern gefilmt werden. Die Videos müssen nach den Wünschen der Trainer entsprechend aufbereitet und die wichtigsten Szenen bei den Mannschaftssitzungen vorgeführt werden. Und nicht nur da. Bei Heimspielen der U19 verlässt Gross fünf Minuten vor der Pause seinen Aussichtsturm, von dem er die beste Sicht auf das Geschehen hat, bespricht sich nach dem Halbzeitpfiff kurz mit dem Chefcoach Julian Nagelsmann und kann dank des technischen Equipments die wichtigsten Szenen, auf die der Trainer in seiner Pausenansprache eingehen will, bereits in der Kabine zeigen. „Das muss alles gut abgestimmt sein, wir dürfen da nicht zu viel zeigen und müssen uns auf die wirklich wichtigen Sequenzen konzentrieren.“ In der Regel sind es die negativen Auffälligkeiten und die gibt es auch, wenn das Team 4:0 vorne liegt. Beispiele? „Wenn sich etwa ein Spieler wiederkehrend bei Ballannahme in den Gegner dreht, ohne den freien Raum zu erkennen“, so Gross. Weitere Ansatzpunkte sind die Verbesserung des Spiels gegen den Ball oder das positionsspezifische Freilaufverhalten. „Wie können wir gegen tiefstehende Gegner wertvollen Raum frei ziehen, um noch effektiver vor das Tor zu gelangen?“

Der Job des Analysten ist damit aber noch nicht erledigt. Gross dreht bei Bedarf Motivationsvideos, erstellt Positionsprofile und Weltstandsanalysen oder bittet die Akademie-Talente regelmäßig zur individuellen Stärken-Schwächen-Analyse. „Das ist vor allem dann erforderlich, wenn ein Spieler wie zum Beispiel Johannes Kölmel vom Stürmer zum Verteidiger umfunktioniert wird.“

Langweilig wird es Gross nicht. Zumal immer neue Projekte warten, wie etwa die Entwicklung innovativer Produkte zur Verbesserung der Spieler- und Teamperformance. „Ein sehr interessantes und spannendes Arbeiten, was immer wieder zu einem intensiven Austausch mit unserem Partner SAP führt.“

Leinwand in der Dusche und handgreifliche Ordner

Nach nur einer Spielzeit kann Timo Gross bereits die eine oder andere Anekdote erzählen. „Vor dem Spiel gegen den VfB Stuttgart haben wir ein Motivationsvideo gezeigt – und dann die höchste Saisonniederlage kassiert.“ Mittlerweile schmunzelt er darüber, damals war ihm nicht zum Lachen zu Mute. Auch nicht beim DM-Halbfinale in Leipzig, als er auf dem Weg zur Pausenbesprechung den Fahrstuhl nehmen musste – und der partout nicht beikam. „Normalerweise haben wir auswärts nicht unsere komplette Ausrüstung dabei, im Zentralstadion haben wir die Leinwand in der Dusche aufgebaut“, erinnert er sich. Mit Erfolg: Die U19 gewann beide Partien mit 3:2 und zog ins Endspiel ein. Dort, beim 1:3 gegen Schalke in Wattenscheid, erlebte er seine schwärzeste Stunde. Nicht nur wegen der Niederlage. „In der Pause musste ich das Stadion verlassen, um von meinem Platz in die Kabine zu gelangen. Ich musste mich an Menschenmassen vorbeizwängen, und dann wollten mich die Ordner nicht mehr ins Stadion lassen. Ich bin mit gekonnter Finte einfach an ihnen vorbeigehuscht, dann müssen sie wohl erkannt haben, dass ich zum Funktionsteam gehöre.“

Der Job des Video- und Spielanalysten ist also deutlich vielschichtiger und anstrengender, als nur von morgens bis abends Fußball zu schauen. Vor allem, wenn auf dem Laptop die Anzeige „Das System wurde unerwartet beendet“ erscheint. In diesen und ähnlichen Momenten sind starke Nerven und Stressresistenz gefragt.

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