Page 83 - Spielfeld_Mai_2021
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SPIELFELD TSG HOFFENHEIM
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Band „Ton, Steine, Scherben“, dessen „Keine Macht für niemand“ den Sound einer Generation prägte. Der Leser atmet die Zeitenwende, spürt das Donnergrollen, die Umwälzungen der Gesellschaft, die Befreiung, auch des Fußballs. Es ist zunehmend fesselnd, wenn Bayer – streng chronologisch – die Monate, Spieltag für Spieltag, bis zum Abpfiff des 34. Spieltags am 28. Juni 1972 immer wieder aus der Perspektive dieser Protagonisten nachzeichnet.
Es sind kurze Schlaglichter, mehr ein Puzzlespiel vieler kleiner Teile, aus dem sich das Gemälde zusammen- setzt, als eine konsistent durcherzählte Story. Das Buch verbindet dabei Politik, Musik und Fußball – aber nicht um den Preis, etwa die Fußballer in ihrer politischen Attitüde zu überhöhen. „Vieles war nur Pose“, sagt etwa Günter Netzer, dessen Lebenswandel samt eigener Diskothek („Lovers Lane“) und dem Jaguar E-Type vor der Tür zur politisch motivierten, rebellischen Haltung gegen das vermuffte Nachkriegsdeutschland stilisiert wurde. Es sind kleine, fein recherchierte Fakten, die einen zusätzlichen Reiz ausmachen in einem Werk, das springt und verbindet zwischen der Besetzung des Schwesternwohnheims des Bethanien-Krankenhaus von Kreuzberg (dem späteren Georg-von-Rauch-Haus, dem Reiser ein musikalisches Denkmal setzte) und dem Offensivspektakel der Schalker um Libuda, die in den DFB-Pokalsieg von 1972 mündet von der Kanzlerschaft Willy Brandts, deren Ostpolitik das Land spaltet bis hin zur deutschen Nationalelf, deren technischer Finesse mit dem legendären 3:1-Erfolg von Wembley im EM-Viertelfinale ihren anerkannten Höhepunkt findet. Es ist ein fragiles Glück.
Im Mai 1972 wird das Münchner Olympiastadion von der DFB-Elf mit einem rauschenden 4:1 gegen die UdSSR eröffnet, die gläserne Zeltdach-Konstrukti- on von Architekt Frei Otto steht für ein modernes, weltoffenes Deutschland. Doch gut drei Monate später endet dieser Traum mit dem furchtbaren Anschlag des Terrorkommandos „Schwarzer September“ auf die israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen. Es ist ein Einschnitt.
„Wenn diese Mannschaft zusammenbleibt, wird sie Deutscher Meister“, sagte Franz Beckenbauer – und meinte die Schalker, die von den Bayern in der Spielzeit 71/72 nur mit Mühe niedergehalten wurden. Doch die „Saison der Träumer“ war zu Ende. Libuda wechselte nach Straßburg, insgesamt 13 Schalker Spieler wurden schließlich infolge des Bundesliga-Skandals gesperrt und der Klub trug fortan den Titel „FC Meineid“.
„Macht kaputt, was euch kaputt macht“, schrieb Rio Reiser im ersten Album der Scherben im September 1971. Er hat es nicht geschafft. Reiser verstarb, schwer gezeichnet, am 20. August 1996, im Alter von gerade einmal 46 Jahren. Der großartige Fußballer hat den großartigen Musiker um gerade einmal fünf Tage überlebt. Stan Libuda schied am 25. August, im Alter
von 52 Jahren, nach zahlreichen Schicksalsschlägen und schweren Erkrankungen, nach einem Schlaganfall aus dem Leben. Die zeitliche Nähe des Todes ist eine fast schon grotesk anmutende Schlusspointe.
„Sie beide verstanden sich auf die Kunst des Spie- lens, weniger auf die Regeln des Spiels“, hat Autor Bernd-M. Beyer erkannt – und den beiden Prota- gonisten mit diesem Werk auch eine Art Denkmal gesetzt. Es ist eine überaus angebrachte Würdigung. Oder wie es einst über Stan Libuda hieß: „Wenn er der Welt etwas hinterlassen hat, dann die Zuversicht, dass es sich lohnen kann, die endlosen Tage des Unvermögens auszuhalten für die zauberhaften Minuten des Glücks.“
 Zwei Helden der Saison 1971/72: Der Schalker Reinhard „Stan“ Libuda (l.) und Günter Netzer. Sie verband die Fähigkeit zur großen Kunst, doch Netzer bewältigte den Alltag um ein Vielfaches besser.
Rio Reiser, Gründer und Kopf der deutsch Rockband „Ton, Steine, Scherben“
   Bernd–M. Beyer: „71/72. Die Saison der Träumer.“ 346 Seiten, gebunden, Verlag Die Werkstatt, 22 Euro























































































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