Page 88 - Spielfeld_Juni_2020
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Aber an biblischen Beispielen wie dem „Tanz ums goldene Kalb“, an geschichtlichen Ge- schehnissen wie dem Sturm auf die Bastille im revolutionären Paris von 1789 oder, 200 Jahre danach, dem Fall der Berliner Mauer, zeigt sich zugleich, wie die Masse „durch ihre bloße physische Existenz“ zumindest zeitweise selbst „Agent der Politik“ wird, bevor sie wieder „unter strategische Kontrolle“ gerät. Immer wieder bietet der Essay einfach reizvolle Seitenblicke. So kannte das antike Griechenland keinen Mannschaftswettbewerb; so gab es zwischen den höchst- bezahlten Wagenlenkern im römischen Circus Maximus und dem englischen Sport um 1900 mehr als zwei Jahrtausende lang keine Profis.
Er habe, so Gumbrecht am Ende, den Text nach langer Vorarbeit „von der ersten bis zur letzten Seite“ bereits in der „Corona-Gegenwart“ geschrie-
 Hans Ulrich Gumbrecht: „Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität“. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2020. 160 S., broschiert, 14,80 €.
ben. Für ihn ist klar: „Ein Stadionereignis ohne Zuschauer kann es nicht geben.“ Ebenso klar allerdings: „Eine Post-Corona-Welt könnte den Zuschauersport grundlegender verändern, als wir uns das jetzt vorstellen können.“ Es bleibt, sei hinzugefügt, gar nichts anderes übrig, als auf aktive Weise abzuwarten. Die Bundesliga setzt, von der Berliner wie von der Politik der Bundesländer gestützt, den Spielbetrieb mit ungewissem Ausgang fort – verantwortungsvoll nach dem Motto des Philosophen Karl Popper: trial and error, Versuch und Irrtum. Das ist gut so. Zu hoffen bleibt, dass nach dem 34. Spieltag der Versuch den Irrtum besiegt hat.
Hinzuzufügen ist schließlich, dass Gumbrechts Essay bei all seinen Meriten einen blinden Fan-Fleck besitzt. Er heißt Borussia Dortmund, genauer: „die gelbe Wand“. Seit der Dort- munder Großvater den Würzburger Knirps in den 1950er Jahren mit ins alte Stadion „Rote Erde“ nahm, ist es um ihn geschehen. Selbst der nun 72 Jahre alte deutsch-amerikanische Akademiker denkt gar nicht daran, etwas zu ändern. Muss er ja nicht. Aber etwas weniger Südkurven-Romantik, und damit zugleich etwas mehr Fußball-Realismus hätte seinem gleichwohl anregenden und hellsichtigen Buch über unser aller Begeisterung für die Spiele in vollen Stadien gutgetan.
Die „Pralinenschachtel“ von Buenos Aires: La Bombonera, die Heimstätte der Boca Juniors. Der Klub ist berühmt für seine enthusiastischen Fans (S. 86/87).
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