Page 87 - Spielfeld_Juni_2020
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SPIELFELD TSG HOFFENHEIM
Zuschauer von einer „Hochstimmung erfasst und durchdrungen: Niemand auf den Tribünen wusste, wohin mit so viel Glück über das erhabene Können der Athleten.“
Ganz anders, aber als faszinierende wie erschre- ckende Kindheitserfahrung gewiss ebenso prägend: „der Uwe-Seeler-Augenblick“ vom Sommer 1961. Der Mittelstürmer des HSV erzielt im Frankfurter Waldstadion per Seitfallzieher eines seiner unnach- ahmlichen Tore, zugleich hört das ganze Stadion „einen dumpfen Knall“. Gumbrechts Vater, Chirurg von Beruf, konstatiert kühl: „Achillessehnenriss“ – aber da irrte er sich. Es ist eine Attacke des Frankfurter Verteidigers auf Uwes Schienbein – zum Glück nicht mehr. Zeitsprung nach vorn: 1990 ist Gumbrecht in La Bombonera, der „Pralinenschach-
 anderen zu stehen oder zu sitzen. Für Gumbrecht ergibt dies allerdings kein Kollektiv, sondern ein „tausendfach gemeinsames Alleinsein“, bei dem, zum Beispiel, „niemand unnötig mit dem anderen spricht“. Die Konzentration gilt eben nicht dem oder den Nachbarn, sondern richtet sich, es ist das Transitive, ausschließlich auf das Spielfeld, dort auf eine bestimmte Konstellation oder einen bestimmten Spieler. Schließlich erweitert sich das Ganze – durch Fangesänge etwa oder, wie in Südamerika, den Dauerrhythmus der Trommeln: Erst dadurch gewinnen die Aktionen auf dem Platz etwas Vertikales, über sich hinaus Weisendes. In diesem Sinn ist das seinerseits nach oben strebende Stadion eine „säkulare Variante des sakralen Raums“, kurzum: eine rein weltliche Kathedrale.
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tel“ von Buenos Aires, in der Maradona knapp ein Jahrzehnt zuvor mit den Boca Juniors seine erste Meisterschaft errungen hatte. Jetzt ist das Stadion leer – und der wallfahrende Literaturprofessor schafft es sogar, eine Nachmittags-Führung in die Sommernacht hinein zu verlängern, die er dann, gut getarnt zwischen den steilen Sitzreihen, ver- botener Weise ganz allein in der Arena verbringt. Mehr Aura war nie.
Es sind drei auf den ersten Blick sperrige, letztlich aber solide Attribute, die solche Anekdoten in Analysen überführen: „lateral“, „transitiv“, „vertikal“. Teil der Stadionmasse zu sein bedeutet für den einzelnen, zu jeder Seite hin, also lateral, dicht an dicht mit
Gumbrechts „Crowds“ sind anspruchsvoll, aber stets nachzuvollziehen. Was Menschenmassen mit dem Schwarmverhalten von Vögeln oder Fischen gemein haben, was die Hirnforschung über Nachahmungs- und Kopiereffekte weiß: Es ist allemal erhellend. Ganz bewusst setzt sich Gumbrecht ab von einer philosophischen und sozialpsychologischen Überlieferung, der es, sagt er, letztlich nur um „die Verachtung der Massen“ gehe, um das Anprangern ihrer Verführbarkeit, ihres Verlangens nach einem Anführer und der latenten Bereitschaft zur Gewalt. Dass es all dies auch geben kann, streitet er nicht pauschal ab – wie sollte er auch?
„Einige der besten Momente meines Lebens habe ich als Teil von Massen verbracht.“ HANS ULRICH GUMBRECHT
 

























































































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