Page 67 - Spielfeld_November_2021
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SPIELFELD TSG HOFFENHEIM
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Nein“, sagt Marc Kienle, über seine aktive Zeit als Profi spreche er mit seinen Spielern nicht son- derlich viel: „Da waren die Jungs ja noch nicht
einmal geboren. Das wären für sie wohl Geschichten aus grauer Vorzeit“ scherzt er. Dabei hat Kienle in einem Land vor ihrer Zeit – als Fotos auch noch ohne Instagram-Fil- ter gern mal schwarzweiß waren – unglaubliche Dinge erlebt. In den 90er Jahren lebte er „den Traum, den seine Spieler nun träumen“: zweimaliger Deutscher Meister in der U19, Junioren-Nationalspieler, Profi-Debüt in der Bundesliga und die Meisterschaft im ersten Senioren- Jahr. Was nach einer Utopie klingt, ist Kienle noch in bester Erinnerung. Vor allem der Empfang am Flughafen nach dem Gewinn der Meisterschale ist fest verankert im persönlichen Archiv. Es waren emotionale Momente; Fans feierten ihre Idole, stürmten die Absperrungen – und der damals 19-Jährige stand mit ungläubigem Lächeln und großen Augen mittendrin: „Am Flughafen war damals alles noch nicht so professionell organisiert und es ging drunter und drüber. Da sind alle Dämme gebrochen – aber das war auch in Ordnung so.“
Rund 30 Jahre später sitzt er in Hoffenheim in seinem Büro und blickt auf ein Foto der legendären Szenerie. Erneut lächelt er. „Wenn man das so sieht, da merkt man: Die Zeit geht nicht spurlos an einem vorbei, man hat schon etwas erlebt in den vergangenen Jahren. Und man wundert sich, wie man früher einmal aussah“, sagt er und das Lächeln verformt sich zu einem breiten Grinsen. Mit dem optischen Wandel ging ein beachtlicher Zuwachs an Erfahrungen einher, die er als Spieler bei Klubs wie dem VfB, dem Karlsruher SC und dem MSV Duisburg sowie als Trainer in den Nachwuchsabteilungen des FC Bayern und des VfB Stuttgart sammelte – und als Cheftrainer des Drittligisten SV Wehen Wiesbaden.
Kienles Erlebnisse als Coach in den namhaften Ausbil- dungszentren rufen in der U19 deutlich größeres Interesse hervor als die Anekdoten aus Spieler-Zeiten. Kienle stört das nicht, er weiß um den besonderen Mehrwert: „Wenn man Beispiele von Spielern erzählt, die die Jungs kennen und die vielleicht sogar ihre Vorbilder sind, ist es für sie anschaulicher. Auch einstige Talente, die nun große Kar- rieren gemacht haben, waren in ähnlichen Situationen, die meine Jungs derzeit auch mal durchleben: Flausen im Kopf, Formschwankungen – man sieht bei den Jungs in der Bundesliga ja immer nur den Erfolg. Aber auch auf diesen Karrierepfaden gab es schwierige Zeiten. Das müssen meine Spieler wissen und lernen, damit umzugehen.“
An Anekdoten mangelt es Kienle nicht, ebenso wenig wie an prominenten ehemaligen Gefährten: Er spielte mit Gio- vane Elber, Matthias Sammer, Guido Buchwald und Carlos Dunga zusammen, wurde von Trainern wie Christoph Daum, Jürgen Röber, Hannes Bongartz und Joachim Löw geformt und coachte dann selbst Top-Talente wie Sebastian Rudy,
Serge Gnabry, Joshua Kimmich, Timo Werner oder Bernd Leno. Eine erlesene Auswahl an Persönlichkeiten, die die Bundesliga über mehrere Jahre prägten und noch immer prägen. Doch auch Kienles Ankunft in der Beletage vor 30 Jahren taugt durchaus als Beispiel mit Vorbild-Charakter. In Stuttgart erreichte er die Profi-Mannschaft auf der Überhol- spur. „Nach dem zweiten unter Ralf Rangnick gewonnenen U19-Titel direkt in die Profis übernommen zu werden, war natürlich ein super Übergang für mich. Normalerweise ging man damals den Weg über die zweite Mannschaft. Bei mir hat alles gepasst, ich hatte Glück.“
Als Trainer überzeugt er seine Spieler nun von den Vorzügen beider Karriereverläufe. Dass alle am liebsten sofort den Sprung in die Bundesliga schaffen möchten, steht außer Frage. Doch Kienle wirbt auch für den zweiten Bildungsweg: „Es ist absolut ehrenwert, zunächst in der Dritten Liga oder Regionalliga zu spielen. Man sollte sich dort zwar nicht zu lange aufhalten, aber es ist ein wichtiger Zwischenschritt, um die nächste Entwicklungsstufe zu erklimmen.“ Zahlen stützen diese als erfolgreicher Jugendtrainer gewonnenen Erfahrungen: „Der Eindruck der vielen jungen Spieler in der Bundesliga täuscht ein wenig. Stammspieler sind nur weni- ge Teenager, kaum jemand startet so durch wie aktuell Florian Wirtz oder zuvor Kai Havertz. Rund 80 Prozent der Talente kommen nicht in der Bundesliga an, ohne Spiele in den U23-Teams absolviert zu haben. Das schaffen meist nur zwei, drei Spieler pro Jahrgang. Wir haben in Hoffenheim Beispiele für beide Wege, nicht viele Vereine praktizieren die Verzahnung so erfolgreich wie die TSG.“
    Marc Kienle im Gespräch mit Trainer Christoph Daum, unter dem er 1992 mit dem VfB Stuttgart Deutscher Meister wurde (o.). Entsprechend euphorisch wurde er und sein Teamkollege Günther Schäfer von den Fans empfangen.

























































































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