Page 86 - Spielfeld_Juni_2022
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Bilder im Kopf
Das Erinnerungsbuch „Wir gingen raus und spielten Fußball“ ist nicht nur ein Segen für Nostalgiker. Andreas Bernard ist eine leichte Erzählung gelungen, die auch an die Grenzen digitaler Gesellschaften führt.
Es ist ein Reichtum, der sich aus dem Mangel speist, den ein Mysterium braucht, um zu wirken. Wer Andreas Bernards Erinnerungen
über die fußballerische Kindheit in den siebziger Jahren liest, der spürt, was sich verändert hat. „Wir gingen raus und spielten Fußball“, heißt das Werk in Anlehnung an jene Kabinenansprache des Trainers Franz Beckenbauer vor dem siegreichen WM-Finale 1990. Ein Satz, der längst zur Legende geworden ist, ohne dass es davon einen Mitschnitt oder ein Film-Dokument gäbe. Auch darum geht es in diesem Werk, das zuvorderst die Erinnerungen des begabten Kickers Andreas Bernard spiegelt, aber weit darüber hinaus eine gesellschaftliche Beobachtung ist. „An die Kindheit denken heißt, an Fußball denken“, schreibt Bernard, selbst Jahrgang 1969 – und trifft damit das Lebensgefühl ungemein vieler Kinder jener Generation (den Autoren dieser Zeilen eingeschlossen). Bernard berichtet von den ewigen Tagen mit den Nachbarskindern auf dem Tartanplatz, nur „Gummi“ genannt, auf dem Jahre lang Tag für Tag gekickt wurde, mit den Spielen „Hoch
eins“, bei dem nur Volley-Tore zählen und der Wahl der Teams durch die Kapitäne mittels „Tip-Top“ (in Anlehnung an die WM-Maskottchen Tip und Tap; ein Spiel, das in Teilen Deutschlands übrigens zu „Piss-Pott“ verballhornt wurde).
Jede Erinnerung ist ein wohlig-warmer Schauer, insbesondere für all jene, für die Fußball – wie bei Bernard – immer auch „der Eichpunkt des Lebens“ war. Ein Tag mit einem Fußballspiel „kann nicht wie manch anderer in Trägheit und Ratlosigkeit verschwimmen; er hat einen Anker, der ihn hält, ein Ziel, auf das er zusteuert“. Und es rührt, wenn der gebürtige Münchner, der heute Kulturwissen- schaften an der Universität Lüneburg lehrt, davon berichtet, wie er wochenlang in München auf die Lieferung eines Trikots des MSV Duisburg wartete, weil ihm im Fernsehen die Streifen so gefielen. Bestellt werden aber konnte es, mangels Alterna- tiven, nur bei einem Fachhändler, der im „kicker“ inseriert hatte (der damals noch viel stärker als heute biblische Gesetzeskraft trug). Darum geht
   EMPFEHLUNG DES HAUSES
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