Page 78 - Spielfeld_November_2020
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 Ingenieur des schönen Spiels
Arsène Wenger hat in vier Jahrzehnten als Trainer den Fußball entscheidend geprägt und ist zu einer Arsenal-Legende geworden. Wer die Entwicklung dieses Sports verstehen will, sollte seine Autobiographie „Mein Leben in Rot und Weiß“ kennen.
 Von Jochen Hieber
A n großen Worten man- gelt es der Autobiogra- phie von Arsène Wenger nicht. Gleich zu Beginn ist von „Momenten der Seligkeit“ die Rede, die der Fußball all „jenen schenkt, die ihn lieben und für ihn alles geben“. Die „absolute Hingabe“ wird im Anschluss immer wieder beschworen. Für einen von Wengers Spielern verkörpert sie sich im „neuen, weißen, wunderschönen Ball“, der viel zu kostbar scheint, um ihn den Boden berühren zu lassen. So lerne man das Kopfballspiel am besten, kom- mentiert der Trainer lakonisch, um dann seinerseits feierlich zu werden: „Auch mir war der weiße Ball heilig und ist es bis heute.“ Beim Rückblick auf die eigene Kindheit im elsässischen Bauern- und Arbeiterdorf Dutt- lenheim unweit von Straßburg, erinnert sich Wenger, in der Kirche nur für den nächsten Sieg gebetet zu haben. Sehr wahrscheinlich, fügt er hinzu, habe er bereits geahnt, was der Fußball ihm einmal bedeuten werde: „meine einzige Religion,
meine einzige Hoffnung“.
Arsène Wenger: „Mein Leben in Rot und Weiß. Wie du Niederlagen überstehst und Siege erreichst“. Aus dem Französischen von Lina Robertz und Marion Herbert.
Ariston Verlag, München 2020. 192 Seiten, gebunden, 20 Euro.
Gegen Ende des Buchs sind wir im neuen, 2006 eingeweihten Stadion des FC Arsenal im Londoner Norden. Der Schiedsrichter schickt den meist kontrollierten Trainer, der stets im Anzug, mit eleganter Strickweste und der roten Vereinskrawatte in der Coaching Zone agiert, wegen üblen Benehmens beim Spiel gegen Manchester United auf die Tribüne: „Kochend vor Wut“, sei er gewesen und habe sich wirklich gefühlt, „als ginge es in diesem Moment um Leben und Tod. So sehr lebe ich den Fußball.“ Wie lässige Ironie wirkt dem- gegenüber der klassische Spruch des legen- dären Liverpool-Trainers Bill Shankly: „Fußball, eine Frage von Leben und Tod? Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann Ihnen versichern, dass es noch viel ernster ist.“ Arsène Wenger hat jedenfalls sein erwachsenes Leben einer einzigen Leidenschaft gewidmet: „Ich ging nicht ins Theater, nicht ins Kino, vernachlässigte die Menschen in meinem Umfeld. 35 Jahre lang verpasste ich kein Spiel, keinen Pokal, keine Meisterschaft, was eine eiserne Disziplin er- forderte – und so lebe ich weiterhin.“
Es mag befremdlich wirken, ausgerechnet von dem aus der Ferne so distinguiert und abgeklärt wirkenden Meistertrainer ein derart heftiges, privatreligiöses Pathos zu vernehmen. Dass er, darin Ottmar Hitzfeld gleich, „das Gras eines Stadionrasens“, dessen Geruch, Beschaffenheit und Pflege als „meine einzige Droge“ bezeichnet, erdet die metaphysische Emphase immerhin
  EMPFEHLUNG DES HAUSES
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