Page 75 - Spielfeld_Oktober_2019
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SPIELFELD TSG HOFFENHEIM
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 Borussia Mönchengladbach als Mittelfeldstratege groß wurde und sich von Herbst 1973 an als erster deutscher Spieler auch bei Real Madrid durchzuset- zen wusste. Völlig undeutsch zelebrierte er Fußball als Kunstwerk und verkehrte im Privatleben nicht nur in seiner Diskothek „Lovers‘ Lane“, sondern auch mit den Stars der Münchner und Düsseldorfer Künstler-, Literaten- und Theaterszene, an deren Spitze der Maler Markus Lüpertz thronte. Das war etwas nie Dagewesenes – und toppte sogar die Auftritte Franz Beckenbauers im Pelzmantel und bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth.
Der Titel „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes“ ist Harigs und Kühns ureigene Erfindung. Als ge- flügeltes Wort hat er denselben legendären Status gewonnen wie etwa Sepp Herbergers Formel „Der Ball ist rund“ oder Herbert Zimmermanns „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen“, auch mit so manchem Schillerzitat und Goethezitat kann er es durchaus aufnehmen. Zuerst aber beschwört der Titel eine unaufhaltsame, deshalb magische Bewegung, deren eigentlicher Wortschöpfer der inzwischen 87 Jahre alte Literaturprofessor Karl Heinz Bohrer ist. „Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Günter Netzer hatte thrill“, schrieb Bohrer, damals Korrespondent in London, am 27. Oktober 1973 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Harig und Kühn haben diesen nach wie vor höchst lesenswerten Text unter der originalen Überschrift „Wembley. Nachruf auf die schönen Verlierer“ im Jahr darauf in ihre Anthologie übernommen. Am 29. April 1972 hatte Netzers thrill – wörtlich übersetzt: „Nervenkitzel“
Ästhet und Wanderer zwischen den Welten: Günter Netzer (hier bei seinem legendären Auftritt 1972 beim 3:1 in Wembley) hat den deutschen Fußball geprägt – auf dem Rasen, aber auch als jemand, der die (Pop-)Kultur mit dem Fußball versöhnte.
oder „Erregung“ – im mit Abstand besten seiner 37 Länderspiele wesentlich zum ersten deutschen Auswärtssieg gegen England beigetragen. Weshalb also Nachruf? Ganz einfach: Bohrer hat neben dem Mythos des alten Wembley-Stadions vor allem das blamable 1:1 der Engländer gegen Polen am 17. Oktober 1973 geschildert, das für das Mutter- land des Spiels zugleich die Nicht-Qualifikation zur WM 1974 bedeutete.
Natürlich hat mancher der 31 Texte dieser singu- lären Sammlung inzwischen Patina angesetzt. Auf Seiten der Fußballer aber ist Fritz Walters Anekdote über einen keineswegs weltmeisterlichen Ausflug ins Filmgeschäft lebendig geblieben, nicht minder sind es die Überlegungen des damaligen Bundes- trainers Helmut Schön über „Spielerpersönlich- keiten und ,Wasserträger‘“ und die Bekenntnisse des unvergessenen Hennes Weisweiler über den Bundesligatrainer als „Seelenfänger“ seiner Spieler und Stars. Nimmt man die bewegenden Erinne- rungen der Schriftsteller und Publizisten Walter Jens und Jörg Drews an ihre Fußballjugend beim TV Eimsbüttel und am Lauterer Betzenberg hinzu, bleibt jedenfalls auch nach 45 Jahren ein mehr als lohnender Lesestoff. Vor allem aber bleibt ein Buch, das einen entscheidenden Impuls gab: Seit „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes“ lässt sich der Fußball ohne seinen kulturellen Mehrwert einfach nicht mehr denken, lesen und damit auch spielen – selbst wenn der Ball längst nicht mehr aus Leder ist und (fast) niemand mehr mit der Feder schreibt.
                      Karl Heinz Bohrer, FAZ



























































































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