Page 74 - Spielfeld_Oktober_2019
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 Mit der Aufsatzsammlung „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes“ wurde 1974 ein Klassiker der Fußballkultur geschaffen. Dieser Band markiert den Beginn der literarisch-ernsthaften Beschäftigung mit dem zuvor verpönten Sport. Eine Belobigung.
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 Leder und Feder
Von Jochen Hieber
Bücher über den Fuß- ball haben es schwer. Sie gelten als Kassen-
gift, weil echte Fußballfans (angeblich) nicht lesen und passionierte Leser wiederum Fußballthemen (mutmaßlich) meiden. Aber es gibt Ausnah- men: Wie beim Wunder von Bern kann auch zwischen zwei Buchdeckeln ein Mirakel ge- schehen. So ein Ereignis war und ist die Aufsatz- und Ge- schichtensammlung „Netzer kam aus der Tiefe des Rau- mes“ (siehe nebenstehendes Cover). Veröffentlicht wurde sie vor 45 Jahren, im Frühjahr 1974, also rechtzeitig – deshalb auch absatzfördernd – vor Be- ginn der Fußball-Weltmeister- schaft in Deutschland. Genaue Verkaufszahlen gibt es nicht mehr, anzunehmen ist, dass der schmale, knapp zweihun- dert Seiten umfassende Band etwa 100000 Mal unter die Leute kam.
Das Bahnbrechende des knallgelben, heute nur noch in Antiquariaten erhältlichen Taschenbuchs war und bleibt
die Idee der beiden Herausgeber Ludwig Harig und Dieter Kühn, zum ersten Mal in der deutschen Buchgeschichte Profis des Leders, also berühmte Fußballer und Trainer, mit Profis der Feder, also bereits bekannten Schriftstellern und noch jungen Publizisten, aufs Schreib- und Lesefeld zu führen. Dort traten sie in naturgemäß elf Kapiteln von „Anstoß“ bis „Mannschaftsaufstellung“, von „Traumpässe“ bis „Die rote Karte“ oder von „Bank und Kabine“ bis „Beifall und Pfiffe“ zusammen an. Aber gegen wen? Gegen das damals noch allgemein herrschende Vorurteil, der Fußball sei nur etwas für schlichte Gemüter mit Massengeschmack, während das gute Buch einer Minderheit von Gebildeten vorbehalten sei – noch schlimmer: den tatsächlichen oder vermeintlichen Intellektuellen im Land.
Als Herausgeber der ersten fußballkulturel- len Textsammlung überhaupt bewiesen der Saarländer Harig und der Rheinländer Kühn ein untrügliches Gespür für den Zeitgeist. Der zeigte sich als direkte Folge des Achtund- sechziger-Aufbruchs vor allem darin, dass die Rangunterschiede zwischen erhaben-ernst- hafter und populär-unterhaltender Kultur mehr und mehr verschwanden.
National wie international repräsentierte diesen Geist kaum einer so genial und zugleich so cool wie der jüngst 75 Jahre alt gewordene Günter Netzer, der zu Anfang der 1970er Jahre bei
EMPFEHLUNG DES HAUSES
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