Page 74 - Spielfeld_April_2016
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                 Der junge Charly Graf aber wollte sich wehren gegen die Um- stände – und er hatte Talent wie kaum ein anderer deutscher Boxer: 1969 wurde er Zweiter bei den deutschen Juniorenmeister- schaften im Schwergewicht. In seinem ersten Profikampf schlug er seinen Gegner k.o. in Runde eins. Der Kampf brachte ihm den Spitznamen „Ali vom Waldhof“ ein. Mit dem Erfolg kam das Ansehen, kam der Ruhm, kam der Absturz. Bei Kämpfen tummelten sich regelmäßig Zuhälter und andere zwielichtige Zeitgenossen um den Ring. Graf knüpfte Kontakte. Seine Be- kannten hatten plötzlich Namen wie
Charly Graf (r.) 1984 beim Kampf mit Georg Grabarz.
Regeln einzuhalten und ihre Ängste zu beherrschen. Konf likte löst man nicht mit Gewalt. Das müssen sie begreifen. Gewalt ist was für Feiglinge“, sagt Graf. Gegen Ende des Trainings sollen sich die Schüler auf den Boden legen, die Augen schließen und ihm nachsprechen: „Ich bin konzentriert, kämpferisch, glück- lich und erfolgreich!“ Sein Mantra. Er und sie wiederholen es mehrmals. Zum Abschluss versammeln sich die Schüler für ein kleines Quiz um ihn. Die Hauptstadt der USA? Manche wissen es, manche nicht. Charly weiß, wie wichtig Bildung ist.
 „Pistolen-Manne“, „Pickel-Bodo“ oder
„Bagdad-Eddy“. Aus dem kleinkriminel-
len Mannheimer, dem schlecht bezahlten
Türsteher, wurde ein überregionaler
Strippenzieher. Mit Unterbrechungen
saß Graf wegen Körperverletzung, Glücksspiel und Zuhälterei insgesamt rund zehn Jahre in Haft. Solche Abstürze will er den Jugendlichen, die er heute betreut, ersparen.
Erst „Ali vom Waldhof“, nun Konfliktlöser
Als er in der Pfingstbergschule ankommt, stürmen schon auf dem Pausenhof die ersten Kinder auf ihn zu, schreien „Chaaaar- lyyy“ und klatschen ihn ab. Knapp 20 Jugendliche trainiert er in der Turnhalle. Nach einigen Aufwärmübungen dürfen sich die Schüler dann endlich Boxhandschuhe anziehen. In Intervallen boxen sie auf die Wand ein, bei einer Runde Sparring dürfen immer zwei gleichstarke Schüler für eine Minute gegeneinan- der boxen – unter der strengen Aufsicht des Ex-Champions: „Nicht so fest! Und nicht ins Gesicht“, ermahnt er. Sein Wort zählt. Wenn es zu laut wird, hallt ein energisches „Hey“ durch die Halle und sofort herrscht Ruhe. „Die Kinder sollen lernen,
Ausgerechnet der RAF-Terrorist Peter-Jür- gen Boock war es, der ihn Anfang der 80er in der JVA Stammheim „kulturell aufrüstete“, wie er es beschreibt. Es begann mit Hermann Hesses Roman
„Steppenwolf“, dann kamen Böll, Faulkner, Brecht und Dosto- jewski. Plötzlich erschlossen sich ihm völlig neue Welten. „Zum ersten Mal in meinem Leben stellte ich mich selbst infrage. Er sorgte dafür, dass ich kritisch über mein Leben, meinen bishe- rigen Weg und meine Einstellungen nachdachte“, schreibt er in seiner Autobiografie. Im Gegenzug machte der Boxer Boock körperlich fit. Es entwickelte sich eine Freundschaft. Noch heute sehen sie sich regelmäßig.
Boock war es auch, der Graf dazu motivierte, wieder zu trai- nieren und zu boxen. Erstmals durfte ein Häftling aus dem Gefängnis heraus in den Ring steigen. Am 20. Juli 1984 schlug er den bis dahin unbesiegten Niederländer Andre van den Oe- telaar in der zweiten Runde k.o. – eine Sensation. Nach nur einem weiteren Kampf boxte Graf kurz nach seiner Entlassung am 9. März 1985 in Düsseldorf gegen Reiner Hartmann um die Deutsche Meisterschaft. In der siebten Runde brach der
„Ich hatte eine Aufgabe. Das war wichtig für mich.“ CHARLY GRAF
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