Page 72 - Spielfeld_April_2016
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  DER SCHICKSALSSCHLÄGER
Er war Schwergewichtsmeister, Rotlichtgröße und ein Jahrzehnt lang Häftling. Heute hilft der Mannheimer Charly Graf Jugendlichen dabei, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten.
Es war der Kampf seines Lebens. Nach zehn Runden reckte Charles „Charly“ Graf am 29. November 1985 im Ring der Frankfurter Festhalle siegessicher den Arm nach oben. Kurze Zeit vorher saß er noch hinter den Gittern der
Justizvollzugsanstalten Stammheim und Ludwigsburg. Er war ein harter Hund mit einem üppigen Strafregister – und dem Meistergürtel im deutschen Schwergewicht. Schon in jungen Jahren geriet er, auf sich allein gestellt, im Mannheimer Ghetto auf die schiefe Bahn. Doch die letzten Jahre in Haft und die Freundschaft zu einem ehemaligen RAF-Terroristen hatten ihn zum Nachdenken gebracht und verändert. Und dann kam an diesem Kampfabend ein Schlag, der den Schwergewichtler härter traf als alle Fäuste seiner bisherigen Karriere: Die Punktrichter erklärten seinen Geg- ner Thomas Classen zum Sieger. Ein offensichtliches Fehlurteil. Der Titel war weg. Und er sollte ihn sich nicht zurückholen. Charly Graf betrat den Ring nie wieder.
30 Jahre später sitzt ein Mann in weißen Chucks und kurzer Hose an der Theke eines Mannheimer Fitness-Studios und trinkt Espresso. Mindestens vier Mal die Woche trainiert er hier. Sein Gang ist nicht mehr so leichtfüßig, die linke Schulter hängt etwas tiefer als die rechte. Trotzdem will Charly Grafs Körper einfach nicht zum Alter passen: ein Kreuz wie eine Tresorraum-Tür, Arme wie Oberschenkel. Normalerweise sehen 64-Jährige anders aus.
Für heute ist die Fitness-Einheit beendet. Gleich beginnt sein Job. Graf ist Sozial- arbeiter, er selbst nennt es Konfliktmanager. Seine Aufgabe: Sozial auffällige und schwer erziehbare Jugendliche in Schulen und Heimen zu trainieren. In vielen der Jugendlichen erkennt er sich wieder, wird an seine eigene Kindheit erinnert. Den Vater, ein US-Gefreiter, lernte Graf nie kennen. Als er gerade einmal 15 Monate alt war, wurde sein Vater zurück in die USA berufen. Charlys deutsche Mutter Elisabeth, mit der er im Stadtteil Waldhof wohnte, trank viel und arbeitete in der Schokola- denfabrik Schokinag. Weder viel Zeit noch viel Liebe konnte sie ihm geben.
 



























































































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